Achtsamkeit hat in den letzten Jahren in der Diskussion um psychische Gesundheit an Bedeutung gewonnen. Sie wird oft als Werkzeug angepriesen, das hilft, Stress zu reduzieren, das Bewusstsein zu erhöhe, sowie einen Zustand des mentalen Wohlbefindens und der erhöhten Resilienz zu fördern.
Doch während viele die Vorteile der Achtsamkeit loben, gibt es auch Situationen, in denen sie weniger angebracht oder wirksam sein könnte. Um das besser zu verstehen, möchte ich Sie einladen, verschiedene Perspektiven und Anwendungen der Achtsamkeit erkunden sowie Bedenken und Grenzen dieses Ansatzes genauer zu betrachten.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit, ursprünglich aus der buddhistischen Tradition stammend, ist heute ein wichtiger Bestandteil vieler psychotherapeutischer Ansätze, insbesondere der Verhaltenstherapie. Sie zielt darauf ab, das bewusste Wahrnehmen und Annehmen des gegenwärtigen Moments zu fördern, wobei Techniken wie Meditation und bewusstes Atmen verwendet werden, um die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken.
Diese Praxis unterstützt die Reduktion von Stress, verbessert die emotionale Regulation und trägt zur inneren Ruhe bei; sie findet Anwendung in persönlicher Selbstfürsorge, therapeutischen Settings und im professionellen Umfeld, um nur einige zu nennen, und zeigt sich als hilfreich bei der Bewältigung von Angstzuständen, Depressionen und anderen psychischen Herausforderungen.
Bevor ich näher auf die Wirkung von Achtsamkeit eingehe, möchte ich kurz ein paar der weit verbreiteten Irrtümer beschreiben und woran ich erkenne, ob ich selbst gerade unachtsam bin.
Was ist Achtsamkeit nicht?
Durch das Klären von Missverständnissen kann eine realistischere und nuanciertere Sicht auf Achtsamkeit entwickelt werden, die es Menschen ermöglicht, ihre tatsächlichen Vorteile effektiver zu nutzen.:
Achtsamkeit ist nicht das Leeren des Geistes
Viele Menschen glauben fälschlicherweise, dass Achtsamkeit bedeutet, den Geist vollständig von Gedanken zu befreien. In Wirklichkeit geht es eher darum, das Bewusstsein für Gedanken zu schärfen und sie ohne Urteil zu beobachten, nicht darum, sie zu eliminieren.
Achtsamkeit ist keine schnelle Lösung
Einige betrachten Achtsamkeit als eine Art Sofortlösung für alle Arten von psychischen Problemen. Obwohl Achtsamkeit viele Vorteile hat, ist sie eher eine Praxis, die kontinuierliche Anstrengung und Engagement erfordert.
Achtsamkeit ist nicht nur Meditation
Während Meditation eine wichtige Achtsamkeitspraxis ist, ist Achtsamkeit breiter und kann in vielen alltäglichen Aktivitäten, wie achtsamem Essen oder Gehen, integriert werden.
Achtsamkeit bedeutet nicht, passiv zu sein
Manche Menschen interpretieren Achtsamkeit als einen passiven Zustand, in dem man akzeptiert, was auch immer geschieht, ohne einzugreifen. Tatsächlich fördert Achtsamkeit eine aktive Bewusstheit und kann eine proaktive Einstellung zu Veränderungen und persönlichem Wachstum unterstützen.
Achtsamkeit ist nicht frei von Unbehagen
Ein weiteres Missverständnis ist, dass Achtsamkeit immer zu einem Gefühl von Frieden oder Entspannung führt. In Wahrheit kann die achtsame Konfrontation mit unangenehmen Gefühlen oder Gedanken anfangs zu Unbehagen führen.
Was ist Unachtsamkeit?
Unachtsamkeit im Alltag zeigt sich typischerweise in verschiedenen Verhaltensweisen und Einstellungen, die sich negativ auf die persönliche Effektivität, Beziehungen und allgemeines Wohlbefinden auswirken können:
Ablenkbarkeit
Man lässt sich leicht von äußeren Reizen oder inneren Gedanken ablenken, was dazu führt, dass man Schwierigkeiten hat, sich auf die aktuelle Aufgabe oder Situation zu konzentrieren.
Automatisches Handeln
Alltägliche Aktivitäten wie Autofahren, Essen oder Gespräche führen verrichtet man auf Autopilot, ohne sich wirklich der Handlungen oder deren Auswirkungen bewusst zu sein.
Fehlende Körperwahrnehmung
Körperliche Signale wie Hunger, Müdigkeit oder Stress nimmer man nicht wahr, bis sie sich intensivieren und schwerer zu ignorieren sind.
Überreaktion auf Emotionen
Man reagiert impulsiv auf emotionale Reize, ohne innezuhalten, um über die Angemessenheit oder die Konsequenzen der Reaktion nachzudenken.
Vergesslichkeit
Kleinere Details oder Verpflichtungen werden oft vergessen, weil man nicht vollständig aufmerksam war, als sie erwähnt oder geplant wurden.
Wann ist Achtsamkeit kontraproduktiv?
Achtsamkeit ist generell eine hilfreiche Praxis zur Förderung der mentalen Gesundheit, aber es gibt Situationen, in denen sie weniger geeignet sein kann oder sogar kontraproduktiv wirkt:
Schwere psychische Erkrankungen: Bei Personen mit schweren psychischen Störungen, wie akuten Phasen einer Depression, schweren Angststörungen oder psychotischen Zuständen, kann Achtsamkeit manchmal zu einer intensiveren Konfrontation mit schmerzhaften oder beunruhigenden Gedanken und Gefühlen führen. In solchen Fällen kann die Praxis ohne professionelle Unterstützung überfordernd sein.
Trauma: Für Menschen, die schwere Traumata erlebt haben, kann die achtsamkeitsbasierte Konzentration auf innere Erlebnisse Trigger für Flashbacks oder intensive Angstzustände sein. Achtsamkeit sollte bei Traumapatienten nur unter fachkundiger Anleitung und oft in Kombination mit anderen therapeutischen Ansätzen angewendet werden.
Falsche Anwendung: Achtsamkeit erfordert eine korrekte Praxis und Anleitung, insbesondere bei Anfängern. Falsch praktizierte Achtsamkeit, zum Beispiel das erzwungene Unterdrücken von Gedanken statt deren Annahme, kann Stress und Angst verstärken statt sie zu mindern.
Unrealistische Erwartungen: Die Erwartung, dass Achtsamkeit schnell zu einer signifikanten Besserung oder Heilung führt, kann zu Frustration und Enttäuschung führen, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden. Es ist wichtig zu verstehen, dass Achtsamkeit eine Praxis ist, die kontinuierliche Übung erfordert.
In diesen Fällen ist es ratsam, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und Achtsamkeit als einen Teil eines umfassenden Behandlungsplans zu betrachten, der speziell auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt ist.
Wie hängen Achtsamkeit und Resilienz zusammen?
Achtsamkeit und Resilienz sind eng miteinander verbunden, da Achtsamkeit als eine Methode dienen kann, die emotionale Widerstandsfähigkeit zu stärken.
Hier sind einige Punkte, die die Verbindung zwischen Achtsamkeit und Resilienz verdeutlichen:
Emotionale Regulation
Achtsamkeit hilft Menschen, ihre Emotionen besser zu verstehen und zu regulieren. Dies ist ein zentraler Aspekt von Resilienz, da eine effektive emotionale Regulation es ermöglicht, stressige Situationen und Herausforderungen mit größerer Gelassenheit zu bewältigen. Durch Achtsamkeitspraxis können Individuen lernen, ihre Reaktionen auf Stressoren bewusst zu steuern und nicht automatisch oder impulsiv zu reagieren.
Stressreduktion
Regelmäßige Achtsamkeitsübungen wie Meditation können das Stressniveau senken. Studien zeigen, dass Achtsamkeit das Stresshormon Cortisol reduzieren kann. Weniger Stress führt zu besserer mentaler Gesundheit und erhöhter Resilienz, da der Körper und der Geist nicht ständig unter Druck stehen.
Bewältigungsstrategien
Achtsamkeit fördert die Entwicklung von gesünderen Bewältigungsstrategien. Anstatt auf Herausforderungen mit Vermeidung oder negativen Verhaltensweisen zu reagieren, können Personen, die Achtsamkeit praktizieren, bewusstere und konstruktivere Wege wählen, um mit Problemen umzugehen.
Erhöhte Selbstwahrnehmung
Durch Achtsamkeit kann eine tiefere Selbstwahrnehmung erreicht werden, die es Menschen ermöglicht, ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse besser zu erkennen. Dieses Wissen ist entscheidend, um in Zeiten der Not selbstfürsorglich zu handeln und Unterstützung zu suchen, wenn sie benötigt wird.
Akzeptanz
Ein wesentliches Element der Achtsamkeit ist die Akzeptanz der gegenwärtigen Umstände und Emotionen, ohne zu urteilen. Diese Fähigkeit zur Akzeptanz ist wichtig für Resilienz, da sie dazu beiträgt, dass Menschen sich nicht gegen unvermeidliche oder unkontrollierbare Ereignisse wehren, sondern lernen, mit ihnen umzugehen und voranzukommen.
Welche Methoden und Übungen gibt es, um Achtsamkeit zu fördern?
Achtsamkeit kann durch verschiedene Methoden gefördert und praktiziert werden, die darauf abzielen, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken und das Bewusstsein für eigene Gedanken, Gefühle und körperliche Empfindungen zu schärfen, z.B. durch:
Mindfulness Meditation: Dies ist die zentrale Praxis in vielen Achtsamkeitsprogrammen. Sie beinhaltet das Sitzen in Stille und das Beobachten von Gedanken, Atem oder Empfindungen ohne Urteil oder Reaktion.
Body Scan: Bei dieser Technik richtet man seine Aufmerksamkeit langsam auf verschiedene Körperteile, um Spannungen zu erkennen und loszulassen. Dies fördert ein tieferes Körperbewusstsein und Entspannung.
Achtsames Atmen: Diese Übung konzentriert sich auf den Atem als Anker für die Aufmerksamkeit, um im gegenwärtigen Moment zu bleiben. Es hilft, von automatischen Gedankenmustern Abstand zu nehmen.
Achtsames Gehen: Beim achtsamen Gehen wird die Aufmerksamkeit auf den Prozess des Gehens selbst gerichtet – auf die Bewegung der Füße, die Berührung des Bodens und das Gefühl der Bewegung.
Achtsames Essen: Diese Praxis beinhaltet, beim Essen volle Aufmerksamkeit auf die Aromen, Texturen und Empfindungen zu legen. Es fördert das bewusste Erleben des Essens und kann dazu beitragen, Überessen zu verhindern.
Achtsame Kommunikation: Dies umfasst das bewusste Zuhören und Sprechen in Interaktionen mit anderen, was zu tieferen und bedeutungsvolleren Verbindungen führen kann.
Diese Methoden können individuell oder in Kombination angewendet werden, um Achtsamkeit im Alltag zu fördern und so zu einem verbesserten Wohlbefinden beizutragen.
Fazit
Achtsamkeit ist ein vielseitiges Werkzeug, das vielen Menschen helfen kann, ihre psychische Gesundheit zu verbessern. Es ist jedoch wichtig, die individuellen Bedürfnisse und Umstände zu berücksichtigen und ggf. professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, insbesondere wenn man mit schwerwiegenderen psychischen Herausforderungen konfrontiert ist. Wie bei allen psychologischen Strategien ist eine differenzierte Betrachtung entscheidend, um die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen.
Richtig angewandt, kann Achtsamkeit dabei helfen, selbst widerstandsfähiger (resilienter) zu werden, aktiv Stress zu reduzieren und psychisch flexibler zu reagieren.
Weiterführende Links
- Kurz erklärt: Was ist Achtsamkeit? (TK.de)
- Achtsamkeit (PLANET-WISSEN.de)
- Was bedeutet Achtsamkeit und wie kann sie das Wohlbefinden steigern? (AOK.de)
- Achtsamkeit aus medizinischer Sicht (PLANET-WISSEN.de)
- Wie Achtsamkeit das Gehirn positiv beeinflusst (AOK.de)
- Entspannt im Hier und Jetzt (SPIEGEL.de)
- Wie trägt psychische Flexibilität zu einem erfüllteren Leben und verbessertem Wohlbefinden bei? (nusselt.de)
- 😇👿 Zwischen „Alles super!“ und „Alles schlimm!“: Wie grenzt man sich ab? (nusselt.de)
- 🧔🏻👱🏻♂️👳🏽♂️ Männer & mentale Gesundheit: Wie geht das zusammen? (nusselt.de)
- Emotionsregulation, Emotionale Intelligenz & Kompetenz (nusselt.de)