wie Besitz unsere Debatten lähmt
Noch nie war unser Land so reich und gleichzeitig so voller Angst, alles zu verlieren.
Menschen fürchten den Jobverlust. Sie zweifeln an den sozialen Sicherungssystemen, der Politik, der Wissenschaft und zunehmend auch an der Wirtschaftselite. Sie klammern sich an das, was sie haben. Und genau diese Angst lähmt unsere Debatten.
Politik und Wirtschaft reden gern von Chancen. Von Innovation. Vom „Deutschlandtempo“. Aber kaum jemand sagt offen: Es wird nicht für alle glänzend. Es wird auch Zumutungen geben. Gewinner – ja. Verlierer – auch.
Ich kenne das.
Vor sechs Jahren kündigte ich meinen Konzernjob und ließ ein sechsstelliges Gehalt zurück. Ich war überzeugt: Nach einer kurzen Auszeit finde ich schnell wieder etwas Neues.
Und dann kam Corona. Einstellungsstopps. Absagen. Stillstand. Plötzlich stand ich da – und musste neu anfangen.
So wurde ich selbstständig. Nicht geplant, sondern angenommen.
Heute verdiene ich deutlich weniger als früher. Früher buchten wir Urlaube ohne Zögern. Heute überlegen wir, ob der Restaurantbesuch am Monatsende passt.
Und trotzdem: Ich habe Freiheit gewonnen. Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was ich tue oder lasse. Weniger Geld – aber mehr Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit.
Verlustangst erlebe ich bis heute. Es gibt Monate, da ist sie größer, und Monate, da spüre ich sie kaum. Wenn sie da ist, dann geht es oft darum, trotzdem weiterzumachen, auch wenn sie mir was anderes rät.
Und ja: Im Vergleich zu vielen anderen bin ich privilegiert. Ich lebe mit meinem Mann in München, arbeite in Tätigkeiten, die weit weg sind vom Mindestlohn.
Gerade deshalb weiß ich: Wenn selbst ich die Verlustangst so klar spüre – wie stark muss sie dann erst bei Menschen wirken, die viel weniger Spielraum haben?
Vielleicht liegt hier ein Spiegel für unsere Gesellschaft:
👉 Wer noch nie echten Verlust erlebt hat, fürchtet ihn umso mehr.
👉 Wer in einer Krise keine Hilfe bekam, spürt die Ohnmacht doppelt.
👉 Wer Sicherheit gewohnt ist, reagiert mit Panik, wenn sie bröckelt.
👉 Wer viele erfolglose Versuche erlebt hat, verzweifelt.
👉 Wer erlebt hat, dass Versprechen gebrochen wurden, erzürnt.
Diese Angst vor dem Verlust und die Wut darüber sitzen längst mit am Küchentisch. Sie schleichen sich in Wahlkabinen. Sie lähmen Meetings, in denen eigentlich Mut gefragt wäre. Und vielleicht lähmen sie uns mehr als der mögliche Verlust selbst.
⚖️ Die entscheidende Frage bleibt:
Wie können wir lernen, Verlustangst auszuhalten – ohne uns den Mut zum Gestalten zu verlieren oder blindlings loszurennen?
Wie können wir uns vorbereitet fühlen – auch auf Szenarien, die vielleicht nie eintreten?
Und wie können wir in solchen Momenten nicht nur uns selbst, sondern auch die Menschen, die uns nahe stehen, wirklich unterstützen?
Angst zu haben ist menschlich. Ob es eine Sorge ist, eine Panik auslöst oder sich in Wut zeigt, ist individuell.