Wir alle kennen sie: die Kollegin, die sich aufreibt, damit alles perfekt ist. Den Kollegen, der jede Bühne sucht, um mit seinem Wissen zu glänzen. Schnell neigen wir dazu, Verhalten zu etikettieren: „Die ist perfektionistisch.“ Oder: „Der ist total narzisstisch.“
- Doch wie trennscharf sind diese Zuschreibungen wirklich?
- Und was sagt es über uns aus, wenn wir Menschen auf solche Labels reduzieren?
- besser zu differenzieren,
- Verständnis und Verstehen zu fördern
- und Wege aufzeigen, wie man mit diesen Mustern – ob bei sich selbst oder anderen – achtsamer umgehen kann.
Gemeinsamkeiten: Der Wunsch nach Anerkennung
Sowohl Perfektionismus als auch Narzissmus kreisen um ein zentrales menschliches Bedürfnis: gesehen und wertgeschätzt zu werden. Perfektionist:innen suchen Bestätigung für ihre Leistung und Gründlichkeit. Narzisstisch geprägte Menschen hingegen fühlen sich oft nur sicher, wenn sie bewundert werden oder im Mittelpunkt stehen.
Beide Muster wurzeln oft in frühen Prägungen: Wenn Zuwendung vor allem für Leistung oder Wirkung gewährt wurde, entsteht schnell ein Gefühl von: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich etwas leiste oder überzeuge.“ Diese Dynamik wird im Erwachsenenleben oft unbewusst wiederholt – mit dem Unterschied, dass Perfektionist:innen sich meist selbst unter Druck setzen, während narzisstische Persönlichkeitsanteile eher versuchen, das Umfeld zur Anerkennung zu bewegen. In beiden Fällen ist der Selbstwert extern reguliert: nicht aus einem stabilen inneren Gefühl von „Ich bin okay“, sondern aus der Reaktion anderer.Unterschiede: Selbstzweifel vs. überhöhtes Selbstbild
Trotz der ähnlichen Wurzel zeigen sich klare Unterschiede:
Perfektionist:innen sind oft von Selbstzweifeln geplagt. Sie fürchten, nicht zu genügen, Fehler zu machen oder negativ aufzufallen. Ihr Antrieb ist meist Angst: vor Ablehnung, Bewertung, Kontrollverlust.
Narzisstische Personen wirken nach außen selbstbewusst, streben nach Bewunderung und können schwer mit Kritik umgehen. Ihr Antrieb ist eher die Aufrechterhaltung eines idealisierten Selbstbilds, das wenig Angriffsfläche bietet – aber innerlich fragil ist.
Während Perfektionist:innen sich oft klein machen, neigen narzisstisch geprägte Menschen dazu, andere kleinzumachen, um sich selbst größer zu fühlen. Der eine kämpft um Anerkennung durch Leistung, der andere beansprucht sie durch Status, Dominanz oder Wirkung.
Beispielhafte Gegenüberstellung
Situation | Perfektionistische Reaktion | Narzisstische Reaktion |
---|---|---|
Kollege bekommt Anerkennung für etwas, das man selbst besser kann | „Ich bin wohl nicht gut genug.“ (Selbstzweifel) | „Das ist ungerecht, ich bin viel besser.“ (Kränkung) |
Feedback wird gegeben | „Ich hätte das besser machen müssen.“ | „Die verstehen einfach nicht, wie gut ich bin.“ |
Anderen wird zugehört | Abgleich mit eigenem Anspruch: „Ist das fachlich korrekt?“ | Bewertung der Wirkung: „Wirkt sie stärker als ich?“ |
Andere verbreiten Halbwissen und erhalten Applaus | Verunsicherung, Ärger: „Warum wird das gefeiert?“ | Abwertung: „Das ist alles oberflächlicher Unsinn.“ |
Die Mischform: Narzisstischer Perfektionismus
Besonders komplex wird es, wenn beide Tendenzen zusammenwirken – z. B. in einer Mischform: dem narzisstisch aufgeladenen Perfektionismus.
Hier strebt die Person nach Perfektion – aber nicht (nur), um Kritik zu vermeiden, sondern um Bewunderung und Überlegenheit zu sichern. Sie will mit Substanz glänzen, nicht nur korrekt sein. Gleichzeitig kann sie kaum damit umgehen, wenn andere Aufmerksamkeit bekommen, die – aus ihrer Sicht – weniger leisten. Typisch für diese Mischform sind Aussagen wie:- „Ich muss immer alles richtig machen – sonst werde ich nicht ernst genommen.“
- „Es frustriert mich, wenn Menschen mit oberflächlichem Wissen mehr Wirkung erzielen.“
- „Ich habe Angst, dass es schlimmer wird, wenn niemand die Wahrheit sagt.“
Normales Bedürfnis oder psychodynamisches Muster?
Nicht jedes Bedürfnis nach Anerkennung ist gleich pathologisch. Entscheidend ist die Frage: Wie stabil ist der Selbstwert – auch ohne äußere Bestätigung?
Aspekt | Gesundes Bedürfnis | Dysfunktionales Muster |
Motivation | Freude, Wachstum | Angst, Mangel, Kompensation |
Umgang mit Kritik | Lernbereitschaft | Abwehr, Rückzug oder Angriff |
Selbstwertbasis | Stabil, auch ohne Applaus | Schwankend, abhängig von Resonanz |
Beziehung zu anderen | Verbindung | Konkurrenz, Vergleich |
Warum wir so schnell urteilen
In unserer schnellen, digitalen Welt sind wir geübt darin, Menschen zu kategorisieren. Das spart Energie und schafft (vermeintliche) Klarheit. Doch oft steckt hinter dem schnellen Urteil eine Vermeidung echter Auseinandersetzung:
- Wenn ich jemanden als „narzisstisch“ etikettiere, muss ich mich nicht fragen, warum mich sein Verhalten triggert.
- Wenn ich jemanden als „perfektionistisch“ abwerte, muss ich mich nicht mit meiner eigenen Angst vor Fehlern konfrontieren.
Der Blick hinter die Fassade: Ein Beispiel aus der Praxis
Eine Klientin in einem Coachingprozess beschreibt:
„Ich kämpfe ständig darum, gesehen zu werden. Ich versuche, mit meinen Inhalten zu glänzen, mit Tiefe zu wirken – aber andere werden mehr gehört, obwohl sie oft nur leere Sätze sagen. Das macht mich wütend und traurig. Ich will einfach, dass Substanz mehr zählt.“Im Gespräch zeigt sich:
- ein Helfer:innenanteil, der die Welt verbessern will
- ein ängstlicher Teil, der befürchtet, dass ohne Wahrheit Chaos entsteht
- ein perfektionistischer Anteil, der kontrollieren will, um sich sicher zu fühlen
- und ein verletzter Selbstwert, der Gesehenwerden mit Liebe verknüpft
Wege zum besseren Umgang – mit sich und anderen
- Verstehen statt bewerten: Frag dich: Was könnte hinter dem Verhalten stecken? Angst, alte Muster, ein Wunsch nach Zugehörigkeit?
- Eigene Resonanz erforschen: Was fühle ich, wenn jemand sich perfektionistisch oder narzisstisch verhält?Vielleicht kennst du diese Seiten auch von dir.
- Beziehung statt Etikett: Begegne der Person, nicht dem Label. Frag, höre zu, lass Raum.
- Grenzen wahren: Verstehen heißt nicht, alles hinzunehmen. Du darfst Nein sagen, auch wenn du das Motiv des anderen nachvollziehen kannst.
- Innere Anteile kennenlernen: In Coaching oder Therapie können die verschiedenen inneren Stimmen sichtbar und in Beziehung zueinander gebracht werden – z. B. der Kritiker, der Retter, der Verunsicherte, das Kind.
- Erlaubnisse entwickeln: „Ich bin auch ohne Applaus wertvoll.“ – „Ich darf Fehler machen.“ – „Ich darf wirken, ohne kämpfen zu müssen.“
Fazit
Perfektionismus und Narzissmus sind keine Diagnosen zum Wegschauen, sondern Ausdruck innerer Dynamiken, die oft schmerzhaft und einsam machen. Wer bereit ist, hinter die Fassade zu blicken, entdeckt Menschen, die auf ihre Weise nach Sicherheit, Liebe und Bedeutung suchen. Und manchmal hilft schon eine echte Begegnung, damit sich etwas verwandelt.
Wir alle tragen solche Muster in uns – mal stärker, mal leiser. Es geht nicht darum, sie loszuwerden, sondern sie bewusst zu führen. Denn aus der Integration entsteht Freiheit.
Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt keine psychologische Diagnostik. Wer bei sich oder anderen tiefer hinschauen will, kann Hilfe in einem professionellen Coaching oder therapeutischen Gespräch bekommen.
Weiterführende Links
- "Perfektionisten vergleichen sich immer mit anderen" (kleinezeitung.at)
- Der Zwang zum Perfektionismus (baerbel-wardetzki.de)
- Perfektionismus (oberbergkliniken.de)
- Podcast: Wann wird Perfektionismus zur Last? (Welt.de)
- Narzissmus: Was hilft wirklich? (NUSSELT.de)
- Das Hochstabler-Syndrom: Was ist es, was nicht? (NUSSELT.de)
- Verachtung und Bewunderung: Starke Gefühle mit gewaltigen Kräften (NUSSELT.de)